Wasserstandsmeldungen. Ich ging in den 1950er-Jahren in Budapest zur Schule. Es war die dunkle Zeit des stalinistischen Kommunismus mit Schauprozessen, Todesurteilen, Deportierungen, über die das Radio regelmäßig berichtete. Doch wenn ich gegen Mittag nach Hause kam, duftete es aus der Küche nach einer himmlischen Gemüsesuppe, und wenn ich das Radio einschaltete, hörte ich die Wasserstandsmeldungen. Von immer demselben Sprecher. Er hatte eine freundliche, sanfte Baritonstimme, mit der er mir beispielsweise mitteilte, dass die Donau bei Schärding zwei Dezimeter höher sei als der mittlere Wasserstand. Anders die Theiss bei Szeged, wo der Pegel um eben diesen Wert sank. Natürlich auch: Wo „Schiffsbegegnungen“ verboten waren, besonders bei „Berg-“ und „Talfahrten“ und ähnliches mehr. Für einen Budapester Schuljungen waren es keine existenziellen Nachrichten. Trotzdem war für mich hinter diesen Sätzen etwas Freundliches, wie das ruhige, normale Leben. Es war mein kleiner Frieden am Mittag.

Viele Jahre später, in den 1980-ern, ich lebte längst in Hamburg, fuhr ich wegen einer Reportage nach Budapest. Ich wohnte dort, wie so oft, im ehrwürdigen Grand Hotel auf der Margareteninsel. Damals gab es in den Hotels Radios. Im Sender Kossuth wurde von einem (hörbar) jungen Redakteur ein (wie ich erfuhr) berühmter Sprecher im Ruhestand interviewt. Ich merkte zunächst nichts. Nur als auf die Frage, „und was lasen Sie denn am liebsten?“, die Antwort kam: „die Wasserstandmeldungen“ – da erkannte ich die noch immer sanfte Baritonstimme. Es war ein angenehmes Wiederhören. Zu meinem Geburtstag in diesem Jahr nun besorgte mir eine Kollegin einen Mitschnitt meiner Lieblingssendung aus dem Budapester Rundfunkarchiv. In den 50-er Jahren wurde sie zwar noch nicht gespeichert.  Aber immerhin ich bekam – per E-Mail – die erste von 1970, mit demselben Sprecher. Und plötzlich war meine ganze Jugend wieder da. Der erste Kuss ebenso wie der schneeweiße, nackte Hintern meines kleinen Bruders, beim Einlauf gegen Würmer. Und wenn Sie, geneigter Leser, auch die damalige Wasserstandsendung hören möchten, schicke ich sie Ihnen gern. Sie ist zwar auf Ungarisch. Doch weil der damalige Wasserstand der Donau bei Schärding heute ohnehin unerheblich ist, können Sie es auch auf Ungarisch anhören – wenn Sie mögen. 
Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de.