60 Jahre Ungarnaufstand – auch der Kinder. 23. Oktober, 1956 Budapest am Nachmittag: Demonstration vor dem Rundfunkgebäude – schräg gegenüber unserer Wohnung. Wir, mein Bruder (15) ich (17), sind dabei. Denn die Forderungen der Studentenschaft will man nicht senden. Etwas später fällt dort der erste Schuss aus einem Stasigewehr. Das erste Opfer des Aufstandes liegt vor unserem Haustor.
Am 24. tobt in ganz Budapest der Kampf: Die sowjetische Besatzungsarmee, sonst auf dem Land stationiert, gegen die ungarischen Verteidiger der Stadt. Beim Häuserkampf sind die Verteidiger im Vorteil: Sie kennen sich aus. Auf ungarischer Seite verhältnismäßig wenige erwachsene Militärs, sowjetische Deserteure, Arbeiter, viele Jugendliche, auch 13-, 14-jährige Kinder. Die Jugendlichen haben leuchtende Augen. Sie lernen schnell. Sie lieben Genosse Molotov und seinen Cocktail, womit man auf einen Schlag einen Panzer in die Luft jagen kann. Gekämpft wird um gut zu verteidigende Häusergruppen aber auch in Häuserzeilen. Auf einer Etage die Sowjets, auf der anderen die Ungarn. Oder auf derselben. Gar in derselben Wohnung schießen sie über den Köpfen der (am Boden liegenden) Bewohner.

Am 28. Oktober ziehen sich die Sowjets zurück. Der Freiheitskampf scheint erfolgreich. Die milde Luft ist wie im Frühling. Neue Zeitungen erscheinen. Die Straßen sind voller Menschen – zwischen den Ruinen. Doch am 4. November kommen neue sowjetische Verbände mit schweren Waffen wieder. Jetzt ist der Kampf schnell entschieden. Und die Rache ist grausam.
Aus der Sicht der Sowjets sogar verständlich: Die glorreiche Rote Armee, die Nazideutschland besiegt hat – wurde in Budapest von eigenen Deserteuren, zusammen mit Jugendlichen und Kindern aufgehalten. Unfassbar!
Nun aber erfüllt der neue ungarische Parteichef, Janos Kádár, die sowjetischen Forderungen über Gebühr: Minderjährige sitzen mehrere Jahre in Todeszellen, bis sie 16-jährig, nach den ungarischen Gesetzen gehenkt werden dürfen. 
Wir, mein Bruder Tomi und ich, haben nicht gekämpft. Wir arbeiteten beim Verletzten-Transport mit unserem Hausarzt, trugen weiße Kittel, die gegen Abend, wenn wir nach Hause gingen, regelmäßig voller Blut waren. Einmal hielt uns eine Frau an: „Jungs, wo gibt es denn Fleisch zu kaufen?“ Sie hielt uns für Schlachtergesellen.
Am Nikolaustag 1956 waren wir nach unserer Flucht bei einem Onkel in Bergisch Gladbach. Und am 7. Januar 1957 in einer Internat-Schule in der Oberpfalz.

P.S.: Der amtierende ungarische Ministerpräsident Orbán, bis 1989 Erster Sekretär der Partei der Jungkommunisten, plant, die Geschichte des Aufstandes umschreiben zu lassen. 

Hinweis: Zehn große Schautafeln auf dem Bürgersteig vor dem Haus des Terrors (zuerst der Faschisten, dann der Kommunisten) sind am Andrássy Boulevard Nr. 60 Tag und Nacht (beleuchtet) zu besichtigen. Sie zeigen dramatische Fotos des Aufstandes, dabei auch die der „Bewaffneten Budapester Jungs“, dazu begleitende Texte auf Ungarisch und Englisch.

Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de.