Rechts nach Finnland. Bekanntlich – so jedenfalls eine in meiner Heimat weitverbreitete Sage – waren die Ungarn ein wildes Reitervolk mit mehreren Stämmen. Zwei von ihnen flüchteten (!) um 900 n. Chr. aus dem Ural, weil sie von Osten her durch noch wildere Reiterhorden bedrängt wurden, suchten sie eine neue Heimat. Sie reisten mit Pferden, Wägen, Frauen und Kindern (in dieser Reihenfolge) Richtung Westen – bis sie an ziemlich hohe bewaldete Berge und eine Tafel kamen: RECHTS NACH FINNLAND. Diejenigen unter ihnen, die lesen konnten, bogen nach rechts ab. Sie leben heute die meiste Zeit des Jahres im Dunklen, saufen, haben dafür aber ein hervorragendes Schul- bzw. Unterrichtssystem und heißen Finnen. Die anderen – genauer ihre Pferde – erkletterten die Berge und kamen ins Karpatenbecken, wo sie noch heute leben. Sie wurden, wegen ihres ungezügelten Temperaments, von den bereits dort lebenden germanischen Stämmen die Unfertigen – Ungaren – genannt.

Ich kannte diese Geschichte schon länger und fand sie einigermaßen lustig. Eines Tages, als ich wegen eines Interviews nach Berlin gefahren bin und abends an der Hotelbar ein Glas Wein trank, lernte ich dort einen blonden Riesen kennen. Bald entdeckten wir unsere gemeinsame Herkunft, ich erzählte ihm die Mär von der schicksalhaften Flucht, und dabei bemerkte ich, dass, je weiter ich mit meinem Bericht kam, sich seine Augen weiteten, und schließlich brach es aus ihm heraus: „Aber nein! So war es keineswegs! Bis zu den ersten Steigungen der Ostkarpaten stimmt es“, sagte er, „aber dort wartete auf ‚uns‘ eine Tafel mit der Aufschrift: GERADEAUS NACH UNGARN. Und alle, die nicht nur lesen konnten sondern auch nicht zu faul waren, sind mit ihren Pferden, Wägen, Frauen und Kindern (in dieser Reihenfolge) über die Berge geklettert. Dort gab es zwei große Ströme voller Fisch, Wälder voller Wild. Und Aprikosenbäume, die sich danach sehnten, dass man aus ihren Früchten einen Schnaps braut. Und“, fügte er hinzu, „selbst im Winter scheint dort die Sonne.“ Darauf tranken wir.
Nach der zurzeit geltenden Auffassung der Sprachforschung ist Ungarisch nach Aufbau und Grammatik eine Turksprache (also mit der türkischen verwandt). Allerdings gibt es verwandte Wörter – wie finnisch „käsi“ und ungarisch „kéz“ – für die „Hand“, die darauf schließen lassen, dass die beiden Völker länger zusammen gelebt haben müssen.
Doch der beste Beweis für die Verwandtschaft sind derartige Mythen, bei denen das jeweils andere Volk besser wegkommt als das eigene. So wage ich, ein Geschäft unter Verwandten vorzuschlagen: Ungarn liefert Aprikosenschnaps gegen Nachhilfeunterricht für ungarische Schulpolitiker von finnischen Schulpolitikern – eben aus einem Land, wo Lehrerinnen und Lehrer ein hohes Ansehen genießen und wo sogar fehlerfreie Schulbücher zum Unterrichtsbeginn bereit stehen. 

Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de. außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com