Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de, außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com 

Oper für Bettler. Ungarn verwendet knapp drei Prozent seines Brutto-Inlands-Produkt für soziale Zwecke. Deutschland 28, Frankreich 32 Prozent.  So gibt es in Ungarn viele Arme, dafür ist das Land reich an Bettlern – zumal Budapest.
Der unangenehmste unter ihnen ist ein Ambulanter, der die Passanten auf der Straße anpöbelt, damit sie ihm etwas „Kohle ‚rüber schieben“. Ich bin mir nicht sicher, ob er davon leben kann. Geradezu märchenhaft wirkt die kleine, gebeugte Frau, die im grauen Kopftuch und passendem Umhang zwischen den Touristen vor dem prächtigen Opernhaus auf und ab schlurft und die bereits erbettelten Münzen in einem glasierten Tonbecher schüttelt. Dazu sagt sie mit ihrer angenehm weichen Stimme abwechselnd in fünf Sprachen Guten Tag oder Guten Abend, je nach Tageszeit. Der Frechste ist ein junger Mann, der im Schneidersitz hinter einer handgeschriebener Papptafel sitzt, auf der zu lesen ist: „Ich sammele fürs Saufen!“ Gut: Auf Ungarisch bedeutet es nicht unbedingt Alkohol. Sein Geschäft läuft sichtlich.

Meleghy Hungarian_State_Opera_House(PDXdj)Für alle Passanten zeigt die Budapester Oper eine ihrer laufenden Vorstellungen auf dem Andrássy Boulevard. So war es auch am letzten warmen Sonntag im Oktober des vergangenen Jahres. Es herrschte eine ungewohnte Ruhe. Nirgends ein Auto. Unter den großen alten Bäumen spazierten auf der ganzen Breite der Fahrbahn Kinder, Hunde, Erwachsene. Auf einem Großbildschirm an der Fassade des Opernhauses sah man die Orchestermusiker und hörte, wie sie ihre Instrumente stimmten. Ich suchte einen Platz auf der Terrasse des Café Müvész (Künstler), schräg gegenüber der Oper, als ich ein bekanntes Gesicht entdeckte. Aber das ist doch die schöne alte Bettlerin, die sonst nebenan in einem Hauseingang sitzt und bettelt, dachte ich. Und tatsächlich. Sie nickte, lächelte und bot mir mit einer kleinen Geste den freien Stuhl an ihrem Tisch an. Und als die Ouvertüre zu Verdis Traviata begann, saß ich neben ihr. Sie ist weit über 60, hat aber immer noch feine Züge. Sie trug ein altmodisches Sommerkleid und war, wenn auch kaum sichtbar, geschminkt. Vor ihr auf dem Tisch eine kleine Flasche Weißwein. Sie lächelte etwas seltsam. Ob sie ein wenig betrunken sei? fragte ich mich. Dann überwältigten mich die Musik und die ungezwungene Stimmung auf der Straße.
In der Pause bestellte ich mir einen Campari mit Orangensaft, und sie begann zu erzählen, leise, als sei es ein Geheimnis: „Sie wissen, dass ich im Haus wohne, vor dem ich gewöhnlich sitze“, begann sie. „Es ist eine Ein-Zimmer-Behausung, wie man sie früher für die Hausangestellten, neben den großen Wohnungen ihrer Herrschaft gebaut hat.“ Ich wusste es. Auch dass sie von einer winzigen Rente lebt und davon, was sie zusammenbettelt. „Für mich“, fuhr sie fort, „ist dieser Opernbesuch ein großes Fest. An diesem Tag esse ich nichts“, sagte sie fröhlich lächelnd, „dafür trinke ich hier eine halbe Flasche Wein, höre die Musik und fühle mich wohl.“ An diesem Abend hat sie mit mir dann doch etwas gegessen: Gebratene Entenleber mit eingelegten Aprikosen und süßen Brioche. „Kommen Sie nächstes Jahr wieder?“, fragte sie zum Schluss. 

Foto: Tourismusbüro Budapest