Schule der Schnorrer. Die Familie Zelig wurde noch von Franz Joseph, dem letzten Kaiser von Österreich und in Personalunion König von Ungarn, geadelt. Nicht besonders hoch, aber immerhin. Der heute noch lebende Baron desselben Namens wohnt in Budapest und hat eine Haushälterin, die in Personalunion auch als Köchin und Putzfrau arbeitet. Schließlich gehört zum Haushalt noch der betagte Diener Johann. Der weißhaarige Baron Zelig sitzt regelmäßig im Café des heutigen Wichts (ungarisch: Mai manó kávézó), in dem auch ich oft sitze. Wir unterhalten uns viel, er ist ein gebildeter, humorvoller Mensch.

Vor einigen Tagen schien mir sein Gesicht noch weißer als seine Haare. Und er schien sich über mich besonders zu freuen: „Stell‘ dir vor“, begann er. „Vor etwa drei Wochen kam ein Schnorrer zu mir. Mein Diener Johann hat ihn hereingelassen. Der Mann, ein ukrainischer Jude, schilderte mir seinen Kummer mit den ungarischen Behörden, den Kummer seiner Frau mit den Töchtern und deren Geldnöten, dazu das Unglück der Töchter mit den ungarischen jungen Männern. Ich stellte mir das alles vor und litt. Dann schilderte er das Unglück seines Hundes, eines Spaniels mit goldbraunen Locken, dessen drei Welpen gestorben sind. Als ich das hörte, konnte ich nicht anders: Ich klingelte. Johann steckte seinen Kopf durch den Türspalt. Und ich sagte ihm, werfen Sie den Mann hinaus! Er bricht mir das Herz. Und Johann, seiner Würde bewusst, stellte sich mit seinen 89 Jahren in seiner ganzen 160 cm-Größe hin und zeigte dem Schnorrer mit einer filmreifen Geste die Richtung zum Ausgang. Der Mann ging aber nicht. Er fragte, was er falsch gemacht habe. Alles, rief ich. Schnorren ist eine Kunst. Du darfst nicht nur jammern! Du musst mich unterhalten, mich aufheitern! Mit ein, zwei Witzchen. Du darfst mich zwar an meine Pflicht erinnern, dir zu helfen – aber natürlich humorvoll. Und mich nicht quälen! Denn entscheiden darf immer noch ich, habe ich gesagt. Dann gab ich ihm 10.000 Forint (ca. 30 Euro), damit er verschwinde. Und Johann wies ihm wieder die Tür.
Doch jetzt fiel der Mann vor mir auf die Knie: ‚Bruder!‘ rief er, ich danke dir! Du hast mich das Schnorren gelehrt. Ich bin dir von jetzt an für immer dankbar. Dein Sklave! Wir in der Ukraine machen keine Unterhaltung aus dem Schnorren. Aber du hast Recht! Die Idee ist wunderbar! Ich werde eine Schule fürs Schnorren eröffnen und viel Geld verdienen.‘ Dann ging er endlich.“

Baron Zelig holte tief Luft. Und fuhr fort: „Heute rief mich mein Freund Kohn an: Dein Schnorrer war bei mir. Er sagt, du hast ihm das Schnorren beigebracht und mich zum Üben empfohlen.“
Ich dachte, ich falle in Ohnmacht,“ sagte Zelig, „und ich Idiot fragte ihn auch noch: Na und, kann er es jetzt besser?
‚Aber nein!‘ schrie Kohn. Er ist ein Quälgeist. Was hast du ihm nur beigebracht? Ich habe ihm 5.000 Forint gegeben, nur damit er verschwindet. Er war zufrieden und sagte, er hat noch mehrere Adressen von dir bekommen. Was hast du da nur angerichtet? Dich kennt doch jeder!‘“
Zelig zitterte am ganzen Körper. „Was soll ich nur machen?“ fragte er immer wieder. „Hast du eine Idee?“
Ich hatte sogar zwei glänzende Einfälle: „Erst einmal gehen wir wieder hinein und trinken einen koscheren Zwetschgengeist. Dann gehen wir zum Rabbi. Vielleicht gibt es hier auch einen ukrainischen Rabbi, der helfen könnte.“
„Ja“, sagte Zelig, „einverstanden! Der Rabbi ist immer gut. Und der koschere Zwetschgengeist hier sogar hervorragend.“
 
Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de, außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com