Nachrichten aus einem kleinen Land

Unser Autor

Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de, außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com

Roma, Zigeuner, Statistik 2018, Julikas Traum, Menuhin und die Gänseleber:

Hurra, die Zigeuner kommen!

Mein Großvater mütterlicherseits war der Gutsverwalter des Grafen Bethlen in Sesarma, Siebenbürgen. Die schönste Erinnerung an ihre Kindheit war für meine Mutter der regelmäßige Besuch einer Zigeunersippe. Jeweils etwa 20 – 25 Menschen zogen in den baumbeschatteten weiten Gutshof, umgeben von den ebenerdigen weißen Gebäuden, der Ställe und den Behausungen der Bauern.

Vorne marschierte der Zigeuner-Baron, der älteste Mann der Sippe, auf zwei seiner Töchter gestützt, dahinter die Musiker, dann die Frauen und die lärmenden schwarzhaarigen und dunkelhäutigen Kinder. Je nach Jahreszeit wurden Lämmer, Schweine und Hühner geschlachtet, viel Brot gebacken. Jeweils etwa eine Woche lang gab es für alle Essen, Trinken, Musik, Tanz und Spiele. Dann bekam der Baron etwas Geld und die Gruppe zog zum nächsten größeren Gut.

Etwas Statistik: die Roma in Ungarn 2018

In Ungarn leben etwa 800.000 Roma. Die meisten auf dem Land, in tiefer Armut, viele in Waldhütten. Von dort begleiten Großeltern ihre Enkel zu Fuß zur Schule. Die Schulpflicht gilt bis zum 16. Lebensjahr – zumal für die Roma. Für Reiche-Leute-Kinder gibt es Privatschulen. Besonders begehrt sind die konfessionellen. Die Roma sind öfter krank und leben kürzer als die übrige Bevölkerung. Viele arbeiten im staatlichen Arbeitsprogramm für den Minimallohn, den sie voll versteuern müssen. So bleiben ihnen am Ende umgerechnet ca. 300.- Euro im Monat. Kein Wunder, dass die meisten von ihnen ihre Stimmen bei der Parlamentswahl im Frühjahr 2018 für ca. 70.- € an die Regierungspartei verkauften. Sie wurden mit Bussen eingesammelt, in die Wahlbüros gefahren und haben dort unter Aufsicht (das Wahlgesetz erlaubt bei geistig Minderbemittelten eine Wahlhilfe) ihre Stimmen abgegeben.

Julikas Traum von der Verwandtschaft

Die junge Roma Julika hat eine warme Altstimme. Sie singt allein beim Kochen und Putzen, aber auch mit verschiedenen ungarischen und serbischen Roma-Gruppen. Sie träumte lange davon, Indien und damit die Urheimat der Roma zu besuchen. Nach einer erfolgreichen Konzertreihe war sie im Frühling 2018 mit insgesamt sieben Freunden und Freundinnen in Mumbai. „Es war wunderbar!“, sagt sie begeistert. „Alles Zigeuner, genau wie wir.“ Bald aber fiel ihnen auf, dass die Menschen sie fremdelnd ansahen. Endlich wagte Julika in ihrem besten Englisch eine junge Frau zu fragen, was denn an ihnen nicht in Ordnung sei. „Eure Kleidung“, kam die spontane Antwort. „Ihr seht aus, wie indische Männer bei Besprechungen mit Europäern. Oder am Flughafen. Aber selbst da kleiden sich Frauen niemals so.“ Julika und ihre Freunde staunten mit offenen Mündern, die Inderin lachte. Dann führte sie sie zum Markt nebenan, wo sie für wenig Geld leichte, luftige Saris, Hosen und Sandalen kauften. „Da waren wir endlich richtige Inder“, sagte Julika mit ihrer warmen Altstimme. Und lächelte.

Yehudi Menuhin, der junge Roma-Geiger und die Gänseleber

Yehudi Menuhin

Der jüdisch-amerikanische Geiger bekam seinen Vornamen (Bedeutung: Judäer, Jude) von seiner Mutter als Rache an der Vermieterin ihrer Wohnung und Nachbarin in New York. Die Frau hielt sich mit ihrer antisemitischen Meinung ganz und gar nicht zurück. Dafür musste sie nun ständig hören: „Judäer hör auf zu brüllen, komm zum Essen“ und ähnliches mehr.

Als erwachsener weltberühmter Geiger mochte Menuhin Ungarn, die Musik, die Zigeuner, wie sie damals hießen, und kam verhältnismäßig oft und besonders gern nach Budapest. Er wohnte immer im Hotel Gellért, mit Blick auf die Donau, und aß auch im Restaurant des Hauses. Neben dem Geiger Roby Lakatos war sein bester Freund, der Zymbal*-Spieler Rácz Aladár, der manchmal (für besondere Gäste) im Speisesaal spielte. Bei einem der Besuche in den 1980-er Jahren, stellte Rácz dem amerikanischen Freund einen unbekannten jungen Roma-Geiger, Horváth Jóska, vor.

Der kam denn auch, wie es sich in Ungarn gehört, zusammen mit der Vorspeise zu Menuhins Tisch. Und spielte. Da geschah etwas, das bis dahin, aber auch danach, in einem ungarischen Restaurant niemals geschah: Nach dem ersten Bissen vom kalten Zander im leichten Zitronenmus hörte der Gast auf zu essen, legte sein Besteck hin, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das sah der Oberkellner (der mir die Geschichte erzählte) und war entsetzt. Er rannte in die Küche und brüllte: „Aufhören mit Menuhins Gänseleber! Eine neue aus der Kühlung holen und warten!“ Dann rannte er wieder in den Speisesaal und gab nach einiger Zeit Joska ein Zeichen mit dem Inhalt: In etwa fünf Minuten aufhören zu spielen!

Die Geschichte ging gut aus. Menuhin verbeugte sich im Sitzen vor dem Jungen Roma, aß den Zander, da war die Gänseleber mit gedünsteten Apfelscheiben gerade fertig.

Und wieder daheim stiftete er ein Stipendium für das Geigentalent, das heute in einem der großen amerikanischen Symphonieorchester spielt.

*Zymbal, ungarisch Cimbalom, ist ein oben offenes Instrument, dessen Seiten mit weichen Stöcken geschlagen werden. Fotos: privat/wikipedia