Nachrichten aus einem kleinen Land

Unser Autor

 

Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de, außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com

                               

                                                      ICH HALTE NICHT DEN MUND!

Die große Philosophin Agnes Heller

Agnes Heller, die große jüdisch-ungarische Dame der Philosophie, ist am Sonntag, dem 12. Mai, 90 Jahre alt geworden. Vorgefeiert wurde schon am Donnerstag, dem 9., in ihrer Budapester Wohnung mit Redakteuren des oppositionellen Klubrádiós. Die Kollegen freuten sich auf die Einladung, hatten allerdings Sorge, ob sie der Schnelldenkerin würden folgen können. Die Befürchtung war unbegründet.
Es eröffnete sich ihnen und den Rundfunkhörern ein dramatisches Leben:  Weltwirtschaftskrise, die ersten Zusammenstöße der NSDAP- und der KPD-Anhänger, Gründung der Deutschen Pfadfinderschaft, namens St. Georg, Hitlers Pakt mit dem Vatikan – die Vorboten des Faschismus und des Krieges.
Ágnes war ein aufgewecktes Kind. Sie wusste sehr früh was geschah, auch im Ausland. Selbst Gesetze und Vorschriften der Nazis kannte sie. Als sie 1944 mit mehreren anderen Kindern im Hof ihres Elternhauses zusammengetrieben wurde, um angeblich zum Arbeitsdienst abtransportiert zu werden, protestierte sie. „Zum Arbeitsdienst dürfen nur Männer und Frauen in arbeitsfähigem Alter eingesetzt werden. Weder Kinder noch Alte. Das sind die Vorschriften“, sagte die Fünfzehnjährige entschieden zu dem ungarischen Ober-Schergen. Der war verunsichert und fragte einen Kameraden: „Was soll ich mit denen machen?“ Der antwortete: „Lass sie halt laufen!“ Die Sätze bleiben ihr unvergesslich.
In den 1940er Jahren studierte sie in Budapest bei Georg Lukács Philosophie, promovierte bei ihm und wurde seine Assistentin.
„Die Jahre des stalinistischen Kommunismus in Ungarn waren sehr schlimm“, sagt sie, „ich wagte den Mund nicht aufzutun.“ Und das ihr!
1977 emigrierte sie zunächst nach Australien und 1986 weiter nach New York, wo sie an der New School for Social Research als Nachfolgerin von Hannah Arendt am Lehrstuhl für Philosophie unterrichtete. Heute lebt sie abwechselnd in Budapest und New York und schreibt über (Sie werden es nicht erraten) Philosophie – für die Jugend.  
Über Viktor Orbán hat sie eine ebenso schlechte wie eigenwillige Meinung: Er sei kein Populist. Agnes Heller versteht das Wort wie die alten Lateiner: Ein Populist arbeitet für das „populus“, für das Volk.  Dagegen sei Ungarns Regierungschef Nationalsozialist. Ihn interessieren die Menschen nur als Wahlvolk, das er geschickt und gern mit Betrug lenke. Orbán interessiere nur die Macht. Um ihn aufzuhalten brauchte es eine möglichst große bürgerliche, konservative Partei, in der sich viele jetzige Orbán-Wähler zuhause fühlen könnten. Die gibt es aber derzeit nicht. Außerdem, so die Philosophin, wäre ein Zusammenschluss aller europäisch denkenden Menschen in ganz Europa von Nöten. Und ein europäisches Selbstbewusstsein.
ORBÁNS NEUESTE SÜNDE
Das winterliche Moratorium für Wohnungsräumungen für säumige Mietschuldner endete am 1. Mai diesen Jahres. Betroffen sind im ganzen Land ca. 900.000 Familien. Darunter auch eine Mutter mit neun Kindern in Zsámbék, einem Dorf östlich von Budapest. Die verzweifelte Frau schrieb Anfang April einen Brief an Viktor Orbán mit der Bitte um Hilfe. Sein Büro antwortete sogar, er wünsche alles Gute und viel Glück.
Doch wie durch ein Wunder, das Glück kam. Die aufgebrachte Schauspielerin Kriszta Szalai veranstaltete auf ihrer Facebook-Seite eine öffentliche Sammlung, und die brachte bis Mitte Mai elf Millionen Forint ein, umgerechnet 37.000 Euro. Das genügt für ein Häuschen in Zsámbék.
P. S. Die Schauspielerin mit dem großen Herzen ist eine Wiederholungstäterin: Sie hat auch schon für ein Beatmungsapparat erfolgreich gesammelt. Fotos: privat/wikipedia