Unser Autor

Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Webseite www.ungarnaktuell.de , außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com 

Das Hauptpostamt in Budapest und die Großbuchstaben
Das Amt für den Postverkehr liegt an der brüllend lauten Großen Ringstraße in einem riesigen, heruntergekommenen Gebäude. Es ist auch für mich zuständig. Und weil mir meine Verwandtschaft meine Post aus Hamburg per Einschreiben nachschickt, bin ich dort häufiger Gast. Der riesige, längliche Saal für „benachrichtigte Sendungen“ (welch ein Unsinn!) besteht aus einem breiten Gang von ca. drei mal dreißig Metern, in dem die Kundschaft mehr oder weniger geduldig wartet, und einem genauso langen aber dreimal so breiten Raum, darin ein Durcheinander von Briefen und Paketen teils in Regalen, teils am Boden. Zwischen den beiden Teilen eine lange Theke mit offenen Schaltern und den Postangestellten dahinter.

Schöne Briefmarken kann man hier auch kaufen

Vor Parlamentswahlen bekommen die Rentner des Bezirks vom Ministerpräsidenten regelmäßig je 10.000 Forint (33.-€) geschenkt, die sie in ebendiesem Raum abholen können. Vor der letzten Wahl musste auch ich an einem dieser Chaos-Tage dorthin. Gleich hinter dem Eingang stand eine junge Frau, die jedem Neuankömmling, der natürlich fragte, wo er sein Bestechungsgeld entgegennehmen könne, antwortete: „Bitte etwa drei Schritte weiter, bei der blonden Kollegin.“ Während ich wartete, sagte sie diesen Satz ununterbrochen, unzählige Male – und das freundlich, sogar lächelnd. Ich habe die Frau tief bewundert.
Als ich endlich drankam, um mein Päckchen abzuholen, geriet ich an einen älteren Mann, der meine Sendung nach ca. fünf Minuten im Durcheinander fand. Ich fragte ihn anerkennend und staunend: Wie?
„Ach“, antwortete er, „ich arbeite seit meinem 18. Lebensjahr hier. Da weiß man schon, wo das Päckchen sein kann, wenn es nicht dort ist, wo es hingehört.“ Himmel, dachte ich mir, das ist auch ein Leben.
Jetzt wird’s ein wenig lustiger.
Die Bewohner des Hauses, in dem auch ich wohne, werden von mehreren Postboten beliefert. Wenn einer von ihnen mich daheim erwischt, ist alles gut, dann gibt‘s auch Trinkgeld. Wenn aber nicht, kann es kompliziert werden. So auch vor wenigen Tagen (dabei fiel mir ein, nicht das erste Mal), als ich die Benachrichtigung nicht entziffern konnte. Weder meinen Namen, noch Straße oder Hausnummer, nichts. Es war ein Durcheinander von Strichen und Punkten – immerhin lag es in meinem Briefkasten, und ich erwartete eine Sendung.
Ich ging also voller Zweifel zu dem „Benachrichtigte Sendungen“-Schalter, kam zu einer freundlichen, hübschen Frau, zeigte ihr den Schein und gestand, dass ich die Schrift nicht lesen konnte. Sie warf nur einen kurzen Blick darauf und sagte fröhlich: „Ach ja, den kenne ich. Der kann nicht schreiben. Immerhin, lesen kann er.“
Ich dachte zuerst, ich habe mich verhört, fragte nach, aber ich hatte richtig verstanden. Ich dachte kurz nach und schlug vor: „Wir könnten doch zusammenlegen und ihm einen Schreibkurs schenken – wenigstens die Großbuchstaben lernen.“
Die junge Postlerin schenkte mir ein zauberhaftes Lächeln und meinte: „Ja, daran haben wir früher auch schon mal gedacht, aber es blieb dabei. Und jetzt geht der Mann im nächsten Monat in Pension.“ Sprach’s, holte meinen großformatigen Umschlag, ich quittierte den Empfang, und wir verabschiedeten uns. Das höfliche Abschiedslächeln  fiel bei uns beiden etwas gedämpft aus.

Fotos: privat/wikipedia