MelegyUnser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de, außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com 

Die Mama und die Süße Mutter. In den 1980er Jahren, in der Zeit des politischen Frühlings in Osteuropa, bekam ich in Hamburg viel Besuch von jungen Leuten aus meiner Verwandtschaft in Budapest. Für sie war es aufregend, im Westen zu sein, für mich schön, mein Ungarisch aufzufrischen. 

Bei ihren Berichten kamen häufig die Begriffe „Mama“ und die „Süße Mutter“ vor. Letztere kannte ich natürlich, denn sie ist die einzig anerkannte Bezeichnung für eine Mutter. Auf Ungarisch einfach „Deine Mutter“ zu sagen, gilt als unverzeihliche Grobheit. Gut: Es gibt auch einen „süßen Vater“.  Aber was hatte es mit der „Mama“ auf sich?
Zu Beginn der Unterhaltungen mit meinen jungen ungarischen Besuchern dachte ich, die „Mama“ und die „Süße Mutter“ seien eine Person. Und als ich aus einem Zusammenhang erriet, dass es zwei sind, erklärte mir eine meiner Großnichten: Die „Mama“ ist in den 70er Jahren auf die Welt gekommen. Angefangen hat es mit den kleinen Freiheiten, die von der kommunistischen Führung übers Volk ergossen wurden. Dazu gehörte auch die Erlaubnis, Kleinstunternehmen gründen zu dürfen. Und weil die Ungarn besonders unternehmungslustig sind (80 Prozent aller Firmen sind bis heute Kleinstunternehmen), hörten die Ehefrauen auf, im staatlichen Betrieb zu arbeiten und gründeten vorzugsweise Mode-Boutiquen. Das war die Geburtsstunde der „Mama“. Weil man ja den staatlichen Kinderhorten nicht traute, musste auch die Großmutter aufhören zu arbeiten, und sich ums Kind kümmern. Und wie abgesprochen, sagten die Kleinen „Mama“ zur Oma. Tatsächlich nennen die, inzwischen Erwachsenen ihre Ersatzmütter immer noch „Mama“.
Tragischerweise sind heute „Mamas“, am besten mit einer ordentlichen Rente, dringend gesucht zur Betreuung von Behinderten: Durch die Änderung einer Rechtsvorschrift werden diese nämlich mit einer Behinderung von weniger als 50 Prozent aus der Arbeitslosen-Statistik gestrichen. Sie existieren nicht als Arbeitssuchende. Also bekommen auch sie keine Unterstützung. Dafür ist die Statistik des Landes hübscher – mehr als 100.000 Menschen weniger Arbeitslose.   
Nachschlag
Noch eine Reminiszenz an die 1970er Jahre. Für viele Ungarn ist die  heutige Werbung unverständlich. Für mich auch – sie ist so voller ungarischer Anglizismen (und verunstalteter Buchstaben), dass ich nicht weiß, was man mir da verkaufen will. Wie wunderbar klar dagegen Plakate im Sozialismus waren, zeigt das bis heute meist zitierte:  „Kaufen Sie Schuhe im Schuhgeschäft!“