Die Sprache der Magyaren ist geradezu wunderbar: Sie bringt sie zum Fliegen – jedenfalls behaupten sie es. Vielleicht erinnert sie das an den geheimnisvollen Vogel Turul, von dem sie der Legende nach abstammen. So fliegen sie hinauf in die Straßenbahn, hinein in Schiff, Bus, Taxi. Außerdem bekommen die ungarischen Männer Kinder. Das Wort für Eltern heißt Gebärende, und zu ihnen werden auch die Väter gezählt. Viele Sprachwissenschaftler behaupten, dass die jeweiligen Idiome, wie Lebewesen, Ausdruck des Unterbewusstseins der Gesamtheit ihrer Sprecher sind.

Ich denke, sie haben Recht. Ungarisch kann – wenn es wichtig ist – auch mal logisch sein: Hauptwörter haben keine Artikel, die auf ein Geschlecht hindeuten. Soll wohl heißen, dass es verhältnismäßig leicht ist, eine Frau von einem Mann zu unterscheiden, man braucht sie nicht die Frau beziehungsweise der Mann zu nennen. Noch weniger sinnvoll ist es, einen Tisch männlich und eine Lampe weiblich zu bezeichnen. Manchmal zwingt die Sprache sogar zur Vernunft.
Auf Ungarisch kann man nicht sagen: „Die beiden kennen sich.“ Denn wer kennt sich schon selbst? Und dann noch den anderen? So sagt man eben: „Die beiden kennen einander – egymást.“ Bemerkenswerter Weise existiert dieses abgeschliffene einer-den-anderen auch im Deutschen – nur wird es kaum benutzt. Geradezu reine Weisheit spiegelt das ungarische Wort für Gesundheit. Es heißt: Egészég, wörtlich Ganzheit. Denn was meint Gesundheit anderes, als dass Körper, Seele, Umwelt, Familie, Freunde – eben das Ganze in Ordnung sein möge?
Zu dieser blumigen Sprache tragen viele Ungarn Pokergesichter. Selbst Menschen, die einander die Hand geben, sehen einander nur zu oft nicht an. Doch was beim Poker gewinnbringend sein kann, ist bei der Kommunikation manchmal eher hinderlich. Wie im folgenden Beispiel: Ich muss abgenommen haben, meine Hosen rutschten, und am Gürtel gab es kein weiteres Loch mehr. Ich ging zu einem Schuster. Der alte Mann arbeitete hinter seinem Pult an einem hochhackigen Damenschuh. Die junge Besitzerin des Schuhs stand, etwas schief, vor dem Pult und wartete. Ich sagte: „Guten Tag!“ Der Schuster sagte, ohne hochzuschauen, „Guten Tag!“
Die junge Frau lächelte und nickte mir zu. Ich fragte, zum Schuster gewandt: „Können Sie mir ein neues Loch in meinen Gürtel stanzen?“ Der Schuster sagte, wieder ohne den Kopf zu heben: „Ja.“
Ich wartete, die Frau wartete, der Schuster arbeitete. Plötzlich sagte er wie in Gedanken und nur zu sich selbst: „So kann ich das nicht!“ Ich dachte, was zum Teufel kann er nicht, das ist doch seine Arbeit, einen Schuh zu reparieren, und schaute hilfesuchend zur jungen Frau. Sie lächelte ein wenig verschmitzt und sagte: „Ich glaube, er meint, Sie sollten den Gürtel ausziehen.“
Ich war hingerissen: Der Mann hat zu mir gesprochen. Der Tag und bald auch die rutschenden Hosen waren gerettet.
 
Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de