Unser Autor

Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de, außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com

                                

                                Der besondere Film – mit einem besonderen Schicksal
                                                   A Tanú – Der Zeuge

Satire über den real existierenden Sozialismus der 1950er Jahre in Ungarn: Zeit der Schauprozesse, als man leicht für Nichts ins Gefängnis kam und manchmal auch überraschend wieder heraus.
Der Regisseur Peter Bacsó begann 1969 mit den Arbeiten an dem Film, und allein die Drehgenehmigung vor 50 Jahren war ein Wunder: Denn gleich die erste Einstellung muss für die damalige kommunistische Führung als Beleidigung gewirkt haben. Man sieht einen Mann, der samt Hund am Bug eines alten Holzkahns steht und an einer Wiese anlegen will. Der Hund springt schon vorher an Land und pinkelt auf die, aus roten Nelken sorgfältig angelegte, Schrift: „Es lebe unser großer, weiser Führer“, womit nur Stalin gemeint sein konnte.
Der fertige Film verschwand denn auch in der staatlichen Versenkung und hatte, als nächstes Wunder, 1981 Premiere in Cannes. Er lief dort als Un Certain Regard, etwa „Ein besonderer Blickwinkel“, und wurde von Verleihern aus 32 Ländern gekauft. Der Regisseur starb 2009, erlebte also nicht mehr, dass die restaurierte Originalfassung seines erfolgreichsten Filmes 2019 wieder in Cannes gezeigt und gefeiert wurde.

Die irrwitzige Geschichte
Josef Pelikan ist ein einfacher, ehrlicher Mensch, alter Kämpfer des Sozialismus, dem faschistische Verhörspezialisten 1944 alle Zähne ausgeschlagen haben. Er lebt und arbeitet in einem winzigen Dorf an der Donau, als Dammwärter. Er hat acht Kinder, die Frau ist mit einem rumänischen Lastenkahn-Schiffer abgehauen, die älteste Tochter hilft ihm, wo sie kann. Pelikan liebt seine Arbeit. Und freut sich über die Besuche seines alten Mitkämpfers, Zoltán Dániel, jetzt Minister (von was, erfahren wir nicht), der immer wieder zum Angeln kommt und ab und zu ins Wasser fällt.

Filmszene

Eines Tages, als Pelikan wieder einmal kein Fleisch im leergekauften Dorfladen bekommt, beschließt die Familie, das lange gemästete und geliebte Schwein zu „ermorden“ und es zu Wurst, Speck und Gulasch zu verarbeiten. Doch leider werden sie verpfiffen, und Pelikan kommt wegen Schwarzschlachtens ins Gefängnis. Dort trifft er den Schläger von einst, der seine Zähne auf dem Gewissen hat.
Kaum in Haft, wird er zum mächtigen Genossen Virág gerufen. Der teilt ihm mit, dass die Partei Pelikan bald um einen Gefallen bitten werde. Bis dahin ist er der Direktor eines Schwimmbades in Budapest. Pelikan möchte zwar lieber an die Donau, aber er hat keine Wahl. Und gleich am nächsten Morgen macht er einen Fehler. Er lässt zwei lärmende Schulklassen ins Bad, während der Verteidigungsminister schwimmt. Also wieder Knast. Als nächstes wird er Direktor der Geisterbahn, dessen Wände er mit Bildern der „geliebten Führer der Nation“ schmücken lässt. Die Mächtigen der Partei fallen angesichts ihrer Schreckens-Fotos in Ohnmacht.
Diesmal jedoch kein Knast für Pelikán, sondern endlich die Bitte: Er soll gegen seinen alten Mitkämpfer Daniel vor Gericht aussagen. Der sei ein Spion des westlichen Kapitalismus und habe, als er bei Pelikán zu Besuch war, als Frosch verkleidet unter Wasser mit anderen „Frosch-Männern“ konferiert und Nachrichten dem Feind übermittelt.
Pelikán lacht zunächst, doch als er von Virág erfährt, dass er, Pelikán, ohne es zu ahnen selbst ein Verräter am Sozialismus sein könne, stimmt er zu. Ein Dichter schreibt sein Geständnis, Genosse Virág das Urteil, eine Logopädin versucht sein Lispeln zu mindern, und ein Nervenarzt behandelt ihn wegen seiner Vergesslichkeit.
Der Prozess beginnt, und Pelikán sieht, wer der andere Zeuge gegen seinen Freund, Mitkämpfer und Ex-Minister Dániel ist: Ausgerechnet der Schläger der Faschisten, der, nach einem Wortwechsel, auch ihn als Verräter anzeigt.
Dafür gibt‘s die Todesstrafe. Pelikán sitzt Monate in Einzelhaft, bis er eines Abends seine Henkersmahlzeit bekommt: Rinderbraten mit Semmelknödel und Weißwein. Am nächsten Morgen führen die Wächter ihn in den Hof, wo die Hinrichtungen stattfinden. Doch da ist kein Mensch. Sie warten. Schließlich rufen sie im Chor den Namen des Direktors, bis endlich in einem der Fenster des ersten Stocks ein Mann im Nachthemd erscheint und fragt, was sie wollen.
„Verzeihen Sie bitte die Störung“, ruft Pelikán , „aber ich soll aufgehängt werden.“
„Wir heißen Sie?“ „Pelikán.“ Pause.
Dann endlich wieder der Direktor: „So ein Bordell! Sie sind längst rehabilitiert worden. Sie sind frei. Das Schmerzensgeld wird ihnen nachhause geschickt.“
Kommentar des Delinquenten: „Sowas von Unfähigkeit! Die können nicht einmal eine einfache Hinrichtung durchführen!“ Schnitt.
Pelikán und Virág treffen sich irgendwann, viel später in einer überfüllten Budapester Straßenbahn und offenbar in einer anderen, besseren Welt. Ihre Unterhaltung ist mühsam. Schließlich sagt Virág: „Die neue Führung kommt bald darauf, dass sie mich braucht.“
Pelikán: „Ich weiß nicht. Ich glaube eher nicht, Genosse Virág.“

E N D E
Nachtrag
Der Zeuge – A Tanú und sein Schicksal: Als der Film 1981 wieder auftauchte, kam der damalige künstlerische Leiter der Internationalen Festspiele in Cannes, Gilles Jacob, Anfang desselben Jahres kurz nach Budapest, um István Szabós „Mephisto“ mit nach Cannes zu nehmen. Doch weil dichter Nebel herrschte, verzögerte sich der Abflug, und ein
einfallsreicher Mitarbeiter der Budapester Filmfabriken fragte Jacob, ob er sich während der Wartezeit nicht eine gerade fertiggestellte Satire ansehen wolle? Jacob sah ihn, nahm ihn mit nach Cannes und kaufte die Rechte.
Die restaurierte Originalversion wurde kürzlich, am 24. September diesen Jahres, in Cannes wieder mit großem Erfolg gezeigt. In die Budapester Kinos kommt Der Zeuge, A Tanú, am 19. November.     
 

Fotos: privat/mubi.com