Nachrichten aus einem kleinen Land

Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de, außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com

DER VERSCHWUNDENE DRITTE GEIGER

In jedem Roma-Quintett gibt es – natürlich – einen tonangebenden Primasch. Er spielt die erste Geige, also die Melodien, Solo-Einlagen, außerdem leitet er die Gruppe. Der zweite Geiger verziert, untermalt das Thema, und beide zusammen sind die musikalische Abteilung des kleinen Orchesters. Stehbass- und Zymbalspieler bilden die Rhythmusgruppe – ergänzt durch den dritten Geiger, der kurze Grundtöne beisteuert und der Musik eine gewisse Würze gibt.

Im Gegensatz zum Jazz, wo jedes Musikstück, meist vom Pianisten, den Mitspielern angesagt wird, beginnt Roma-Musik mit zwei Takten Vorspiel des Primasch. Daraus wissen alle anderen, welches Stück, in welcher Tonart, in welcher Geschwindigkeit dran ist. Einen Dirigenten braucht eine derartige kleine – oft aber sehr feine – Gruppe nicht.

So habe ich sie in vielen Restaurants in Budapest und auf dem Land bis zur Jahrtausend-Wende erlebt. Dazu gehörten auch Szenen, in denen eine bekannte Sängerin nach üppigem Wein-Abendmahl dem Primasch mitteilte: „Mit Ihnen singe ich nicht! Ich singe nur mit Karajan.“ Der Primasch wusste, wer Karajan war, und auch, wann er starb. Trotzdem wünschte er der Sängerin viel Erfolg zur Verwirklichung ihres Traumes.

László, den jungen Geiger, lernte ich in einem berühmten Fischrestaurant nahe der Theiß im südungarischen Szeged kennen. In einer Spielpause, bei einem Glas Wein, beklagte er sich über seine Rolle als Dritter. „Was man alles aus einer Geige herauslocken kann!“ seufzte er, „und ich darf nur kleine Tupfer als Begleitung dazu geben.“ Ich fragte ihn, weshalb er nicht wenigstens Zweiter geworden sei. „Mein Vater war schon Dritter, und der sagte immer: ‚Sei froh, Junge, so brauchst du wenigstens nicht hungern! Wir sind bettelarme Zigeuner! Kein Geld für Geigenunterricht!‘“

Schade, dachte ich. Als ich bald darauf wieder nach Szeged kam, war László nicht mehr da. Der Primasch sagte: „Rausgeschmissen. Der neue Besitzer hat kein Gehör, ist dafür knauserig.“

Mir tat es leid. Und mit der Zeit habe ich László vergessen.

Erst etwa drei Jahre später kam ich wieder nach Szeged, wegen eines Berichts über ein zauberhaftes barockes Thermalbad, in dessen geschlossenem Garten an Sommerabenden Kammerkonzerte erklingen (für angezogene Gäste). Ich hatte mich verspätet, hörte aber, im Foyer wartend, Brahms „Ungarischer Tanz“ Nr. 5 Allegro, genannt „Im Zigeunerstil“, für Geige und Klavier.

Nach der Pause kam als erster der Tanz Nr. 7 für ein Kammerorchester dran. Ich sah aus der letzten Reihe die Musiker auf die kleine Bühne kommen, alle weißhäutig, nur zum Schluss einen mit einem dunkleren Teint, die Geige in der Hand – László.

Nach dem Konzert saßen wir in dem alten Fischrestaurant ,und er berichtete: „Der Rausschmiss war mein Glück. Ich arbeitete als Kellner und übte Geige. Dann starb Vater, der Jahrzehnte lang jeden Forint, den er missen konnte, sparte. Niemand wusste davon. Plötzlich hatte ich Geld, für die Stunden, die ich als Vorbereitung auf die Musikakademie brauchte. Ich spiele auch im ‚Hundertköpfigen Zigeunerorchester‘*. Es geht mir gut.“

Und ich, Ihr Autor, habe mich ganz besonders gefreut, das zu hören.

*Eines der renommiertesten Orchester Ungarns Foto: wikipedia