Der jüdische Witz in Budapest

Vorbemerkung: In der ungarischen Hauptstadt gibt es neun funktionierende Synagogen, darunter eine der größten und schönsten Europas, mehrere jüdische Theater, zwei Klezmer-Bands, einige koschere Restaurants, jüdische Cafés und  Konditoreien – in einem bäckt die Mutter des Inhabers mittwochs den besten Strudel der Stadt.
In diesem Milieu betritt Kohn das Café Spinoza und sieht dort seine Freunde Grün und Schwarz bei einem bizarren Spiel: Grün nimmt aus einer Schale voller Pflaumen eine Frucht, hält sie Schwarz unter die Nase und fragt: „Ganz oder gequetscht?“ Schwarz tippt auf ganz. Grün drückt zu und sagt: „Sie ist doch gequetscht, du hast verloren.“ Er wirft die zerquetschte Pflaume in eine andere Schale, wischt seine Hand ab und kassiert von Schwarz hundert Forint. In der nächsten Runde tippt Schwarz auf gequetscht.  Diesmal drückt Grün nicht zu und sagt: „Du siehst doch, sie ist ganz“ – und Schwarz hat wieder verloren. Kohn sieht entsetzt zu und sagt: „Schwarz, du bist ja völlig meschugge! Bei diesem Spiel kannst du nur verlieren.“ Schwarz sieht ihn mit seinen Dackelaugen traurig an und sagt: „Ich weiß, aber ich kann nicht mehr aufhören. Ich habe schon zu viel verloren.“  „Das ist doch gar nichts,“ sagt Grün, „ich habe 2008 während der Bankenkrise nicht gewagt, meine zwei VW-Aktien zu verkaufen. Erst als sie ganz im Keller waren, hab‘ ich’s doch getan. Gottlob haben sie sich bald erholt.“ „Ich gratuliere!“ sagt Kohn, „aber das ist lange nicht das Schlimmste. Ich habe eine kleine Geliebte, die nicht mit mir schlafen will, was gar nicht schlecht ist.“

„Wieso das?“ fragen die anderen im Duett. „Wir haben es einmal versucht, und dann wollte ich nicht mehr. Es war wie mit einem Eisblock – stell ich mir vor. Dann wollte sie bei mir kochen und putzen, aber sie kommt nur, wenn sie kein Geld mehr hat, und muss leider sofort wieder los.“ „Schmeiß‘ sie doch raus!“ sagen Grün und Schwarz, wieder unisono. „Um Himmels willen!“ stöhnt Kohn. „Wer kümmert sich um ein so faules, lügnerisches, diebisches und unansehnliches Geschöpft – außer mir? Ich habe da schon zu viel investiert. Vielleicht bessert sie sich.“
In der Stille, die entsteht, bringt der Kellner zwei neue Schalen, eine mit (ganzen) Pflaumen und eine für die (zukünftigen) zerquetschten. „Spielen wir endlich weiter?“, fragt Grün. „Spielst du mit, Kohn?“ 
Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de.