Nachrichten aus einem kleinen Land

Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de, außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com  

Die „Kleine U-Bahn“ in Budapest und ihre ungewöhnlichen Fahrgäste

Klein ist sie tatsächlich. Die Sitze in den Waggons sind höchstens für schlanke Kinder bequem, die Decke ist so niedrig, dass viele junge Männer im Stehen nur mit gebeugtem Kopf reisen können. Kein Zweifel, die Menschen Ende des 19. Jahrhunderts waren weniger hoch gewachsen als die Heutigen.
Geplant und errichtet wurde die erste Metro auf dem Kontinent (nach London) für die 1000-Jahr-Feier Ungarns 1896 von der Firma Siemens & Halske. Die Bahn verläuft nur wenige Meter unter dem Asphalt des Andrássy Boulevards. Sie verbindet das Pester Stadtzentrum (Vörösmarty Platz) nahe der Donau mit dem Stadtwäldchen, einem weitläufigen Park. Darin befinden sich ein See zum Rudern (im Sommer) und zum Schlittschuh laufen (im Winter) und das größte Thermalfreibad der Stadt. 
Ich benutze die Bahn gern, weil ich an der Station „Opera“, der Budapester Oper, wohne, und weil das Reisepublikum nicht nur kosmopolitisch, sondern oft auch höchst ungewöhnlich ist.
So fiel mir vor kurzem ein sitzender kleiner Junge mit pechschwarzen Locken und ebensolchen Augen auf, dessen Füße den Boden kaum erreichten. Er mag etwa acht Jahre jung gewesen sein. Seine Mutter und drei Asiatinnen saßen in einer Reihe links von dem Kind – und wurden bald unser dankbares Publikum.
Denn zum Glück für uns alle war der Platz genau gegenüber dem Kind frei. Ich setzte mich, sah den Knaben an, er sah mich an. Plötzlich machte er eine Grimasse, wie ein überglücklicher mit offenem Mund lachender Clown. Ich habe sogleich verstanden und antwortete mit gebeugtem Kopf, heruntergezogenen Mundwinkeln und trauriger Miene.  Aus den Augenwinkeln sah ich die vier Damen lächeln. Die Schau ging weiter: Der Junge beugte den Kopf nach hinten und streckte die Zunge zusammengerollt erstaunlich hoch in die Luft. Dafür schielte ich mit beiden Augen in Richtung Nasenspitze. Das Publikum lachte. Ich aber stellte fest, dass mein Mitspieler mir haushoch überlegen war: Er konnte die Ohren hoch und herunter schieben und die Nasenlöcher öffnen und schließen.
Endlich kam die Endstation, und wir alle lachten. Aus den Lautsprechern kam die Aufforderung: „Verlassen Sie bitte den Zug nachdem er angehalten hat, und erinnern Sie Ihre Mitreisenden auch daran.“ Das taten wir, und in der Schlange vor den Stufen zum Ausgang sagte mir die Mutter: „Das macht er, seit er lebt. Als er abgenabelt wurde, hat er mir die Zunge herausgestreckt. Er war schon in Behandlung. Jetzt ist sein Psychologe selbst in Behandlung. Sie sind der einzige, der ihn verstanden hat.“ Der Kleine sah mich lächelnd an, winkte mir zu, und als ich mich zu ihm hinunterbeugte, sagte er leise: „Du bist richtig gut. Aber du solltest viel üben, dann wirst du der beste Fratzenschneider.“ Schöne Aussichten!  Foto: privat/wikipedia