Unser Kolumnist, der Ungar Péter Pál Meleghy, ist Autor vieler Reiseführer und Kochbücher und schreibt für verschiedene deutsche Zeitschriften. Er lebt in Hamburg und Budapest und betreibt die Website www.ungarnaktuell.de, außerdem die beiden Literaturseiten www.phantastisch-realistische-literatur.de und www.ein-oscar-fuer-hitler.com

Hilfe!Hilfe!Hilfe

In den Ländern, in denen sich die Regierungen nicht oder nur unzulänglich um die sozialen Belange ihrer Bürger kümmern, tun das gewöhnlich andere. In Ungarn sind es oft die Familien, und das nicht nur auf dem Land, sondern auch in Budapest. Außerdem kümmern sich kirchliche und private Organisationen. Aber auch die Menschen auf der Straße helfen einander. Selbst bei Kleinigkeiten.
Eine häufige Szene: Ein Mann mit einem Kind auf dem Arm steigt in eine Straßenbahn. Sofort springen zwei Frauen und ein, zwei Knaben auf und bieten ihre Plätze an. Oder: Eine Frau in der U-Bahn kämpft (aussichtslos) mit dem verhedderten breiten Träger ihrer Seitentasche und der Kapuze auf ihrem Rücken. Ein junger Mann hinter ihr fragt, ob er helfen könne, erntet ein glückliches „Jaaa“, bringt die Sache in Ordnung und bekommt einen Dank mit breitem Lächeln.
Wenn ein Blinder aus der Stadt-Bahn mit den hohen Stufen aussteigen will, kommen immer zwei mit ihm, helfen ihm hinunter und steigen eilig wieder ein. Der Fahrer wartet ebenso wie Buschauffeure an den Haltestellen auf späte heran eilende Fahrgäste.
Und natürlich gibt es Hilfe bei Unfällen – oft zu viel. So sah ich an einer weitläufigen Kreuzung der Innenstadt, wie ein Kleinlaster ein Motorrad zwar nur leicht angefahren hat. Aber das Gefährt stürzte, der Fahrer blieb am Boden liegen. Ich lief (automatisch) los. Doch schon nach drei Schritten sah ich gut zwanzig Menschen bei dem Verletzten. Ich ging also meines Weges und hörte schon wenige Minuten später die Sirene des Rettungswagens, den jemand alarmiert hatte.
Doch es klappt nicht immer so gut. Ein guter, alter Freund, der junge Fußballer managt, verleiht, verkauft und damit viel Geld verdient, wohnt mit Frau und großem Sohn in einer teuren Gegend auf dem Gellértberg.
Vor kurzem wurde Tibor, so heißt er, vor seinem Haus von einem Landrower erfasst und auf den Bürgersteig geschleudert. Dort lag er, ein Arm und ein Bein gebrochen – aber immerhin bei Bewusstsein. Zwei Passanten gingen wortlos vorbei. Ein Autofahrer verlangsamte sein Tempo und rief: „Na du besoffene Sau?!“ Endlich, zu seinem Riesenglück, kamen seine Frau, sein Sohn und ich. Sie rief den Hausarzt an, der mit einem ausgerüsteten Rettungswagen und zwei Helfern (aus der Nachbarschaft) sofort da war. Andere Wohnbezirke – andere Sitten eben.
Die für mich die erstaunlichste, geradezu rührende Zusammenarbeit dreier einander wildfremder Menschen geschah wieder in der verkehrs-brüllenden Stadtmitte. Ich saß in einer Straßenbahn (die in Budapest jeweils in der Mitte der entsprechend breiten Boulevards und Ringstraßen fahren) am Fenster. Mir gegenüber eine faszinierend schöne alte Dame. Die Bahn hielt gerade an einer Station. Wir schauten auf die leere Fahrbahn neben uns und dahinter den Bürgersteig mit den vielen Passanten. Es nieselte. Aus einer Nebenstraße bog ein Fahrradfahrer auf die immer noch leere Fahrbahn, für die Autos zeigte die Ampel noch Rot. Plötzlich rutschte das Rad aus. Der Mann fiel hin und verlor offenbar das Bewusstsein. Das sah ein junger Mann auf dem Bürgersteig. Nach einem schnellen Blick zu den Autos, sprang er auf die Fahrbahn, stellte sich breitbeinig und mit ausgebreiteten Armen hin. Da waren auch schon zwei andere Jungs beim Verletzten. Der kam zu sich, schüttelte kurz den Kopf, die beiden halfen ihm hoch, er setzte sich wieder aufs Rad und war weg. Die Szene dauerte höchstens zwei Minuten. Die drei Retter winkten einander zu und verschwanden zwischen Fußgängern. Die alte Dame mir gegenüber suchte nach einem Taschentuch, fand eines und putzte sich umständlich die Nase.

Foto: privat